Ich habe seit ca. 10 Jahren das Blog einer jungen querschnittgelähmten Frau in meiner Blogroll, dachte ich jedenfalls. Seit anderthalb Wochen ist das leider nicht mehr ganz so sicher. Es gibt Indizien, dass Jule Stinkesocke möglicherweise nicht existiert. Fakt ist, dass die Profilfotos im Blog, bei Twitter und Mastodon nicht Julia G. aus Norddeutschland zeigen, sondern eine junge Frau aus Australien. Tja. Soweit, so unspektakulär. Dass jemand nicht das eigene Gesicht als Avatar verwendet, ist in sozialen Medien nun wirklich nicht ungewöhnlich. Im Impressum ihres Blogs steht (seit vielen Jahren) ein Männername – Markus Weber – als Ansprechpartner mit der Begründung, dass sie nicht mit eigenem Namen und Adresse für Stalker auffindbar sein möchte. Allerdings gibt es nun zahlreiche Menschen, die der Meinung sind, da Jule (auch bei Preisverleihungen) nie persönlich in Erscheinung getreten sei, könne sie auch gar nicht echt sein und Markus Weber, der inzwischen Lindemann heißt, im Rollstuhl sitzt und in Hamburg behinderte Jugendliche im Schwimmen trainiert, hätte sich alles nur ausgedacht. Beweise dafür gibt es nicht, aber zahlreiche Medien von Bild bis ZDF, von Podcast bis Tageszeitung berichten darüber – die meisten mit dem Tenor, wie schrecklich es doch sei, dass „ein mittelalter Mann“ sich diese Geschichten ausgedacht habe, obendrein von Spenden profitiere und irgendwelche wilden Fetische bediene.
Mich ärgert diese Vorverurteilung und die Unterstellung, es ginge im Blog und auch bei Twitter vorrangig um Sexualität, seltsame Fetische (nein, ich werde hier nicht ins Detail gehen), ganz allgemein Schmuddelkram und nicht zuletzt persönliche Bereicherung durch eine Spendenaktion. Außerdem sei es schlecht für behinderte Menschen, denen nun noch weniger geglaubt werde, als ohnehin schon, weil die Geschichten total überzogen und unglaubwürdig wären und falls sich junge Mädchen an Jule gewendet hätten in der Überzeugung, mit einer jungen Frau zu kommunizieren und ihr Herz auszuschütten oder Hilfe zu suchen, in Wirklichkeit aber eben Markus diese Nachrichten erhalten hätte, sei das ganz schlimm.
Ich weiß nicht genau, wann ich das Blog entdeckt habe – irgendwann zwischen 2010 und 2012 dürfte es gewesen sein – ich kann aber sagen, ich habe es komplett gelesen. Nicht an einem Stück, sondern eben immer dann, wenn es neue Beiträge gab. Wie das so ist, lagen manchmal nur Stunden, manchmal auch Monate dazwischen – vielleicht ist die Wahrnehmung anders, wenn man es geballt liest. Ich habe die Geschichten aus Jules Alltag mit Behinderung und Rollstuhl gern gelesen und finde sie – nach meinen eigenen Erfahrungen mit behindertem Kind und über Jahre auch mit Reha-Buggy und Rollstuhl unterwegs – längst nicht so unglaubwürdig, wie sie teilweise dargestellt werden. Es geht um Unfallfolgen und sich zurück ins Leben kämpfen und Freunde finden und auch darum, was eine Querschnittlähmung für die Blasenkontrolle bedeutet. (Spoiler: Nichts Gutes!) Zwischendurch gab es Beiträge über Verliebtsein, Sexualität und auch Selbstbefriedigung, aber sorry, der Porno, den einige daraus machen, war es, meiner Meinung nach, nicht.
Richtig übel stößt mir auf, dass immer und immer wieder Sätze über Auscheidungen o.ä. ohne Kontext zitiert werden und empört darauf hingewiesen wird, dass das eben nicht von einer jungen Frau, sondern von einem Mann stamme, der sich mit solchen Themen offenbar Befriedigung verschaffe. Und wer das nun immer noch nicht glaube, dem sei nicht mehr zu helfen. Hmpf. Vielleicht ist das so. Vielleicht bin ich zu leichtgläubig. Aber sollte nicht bis zum Beweis der Schuld die Unschuldsvermutung gelten? Und was würde Schuld hier eigentlich rein rechtlich bedeuten? Falls Markus sich Jule ausgedacht hat, wäre das justiziabel? Spenden für ein neues Auto bzw. den behindertengerechten Umbau hat Markus 2020 tatsächlich per Paypal erhalten, nachdem Jule bei Twitter darauf hingewiesen hatte. Falls Jule sein eigener Zweitaccount war, wäre das moralisch wahrscheinlich verwerflich, aber rechtlich? Und der Rest?
Und im umgekehrten Fall, wenn Jule so (oder so ähnlich) existiert, wie sie sich darstellte, oder zumindest nicht das Produkt von Markus‘ Phantasie ist – darf man ihm dann mit (dann ja unbegründeter) übler Nachrede das Leben kaputt machen?
Jules Blog und Twitteraccount sind inzwischen offline, bei archive.org kann man aber vieles nachlesen.